Homo empathicus? Oder: Warum sind Menschen plötzlich von Natur aus sozial?

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Svenja Matusall
LV Hamburg

Bis vor kurzem wurde die »Natur des Menschen« in der Evolutionsbiologie, aber zum Beispiel auch in den Wirtschafts-
wissenschaften, als egoistisch und die Evolution als Kampf ums Dasein, als Kampf aller gegen aller, beschrieben: Der »homo oeconomicus« strebt nach seinem eigenen Vorteil, denkt gewinn-
maximierend und schafft Konkurrent*innen aus dem Weg. Doch seit ein paar Jahren bekommt eine andere Interpretation der »Natur des Menschen« immer mehr Anhänger*innen: der »homo empathicus« ist sozial, kann sich in seine Mitmenschen hineinversetzen und kümmert sich um andere. In dieser Interpretation der »Natur des Menschen« wird die Evolution durch sozialen Zusammenhalt vorangetrieben.
Menschen, so das Argument, haben immer
in Gruppen gelebt. Sie sind von anderen sowohl in der Erziehung des Nachwuchses als auch für das eigene Überleben und Wohlergehen abhängig. Daher ist die Fähigkeit zu sozialen Bindungen, Gemein-
schaftsgefühl und
Kooperation von entscheidender Bedeutung für das Überleben der Art. Genau so wichtig ist die Fähigkeit, soziale Codes, zum Beispiel Gefühle, interpretieren zu können. Damit sind soziale Fähigkeiten kein Nebeneffekt der Evolution, sondern zentrale Bestandteile der »Natur des Menschen«.

In diesem Menschenbild gelten Empathie (die Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen) und Altruismus (sich um andere kümmern) als die Norm; Belege dafür, dass diese Fähigkeiten tief in unserem evolutionären Erbe liegen, werden unter anderem durch die Evolutionsbiologie erbracht und auch im Tierreich gesucht und gefunden: Neben Menschen zum Beispiel auch Elefanten, Hunde, Delfine und Ratten empathisch sein – und die Liste wird immer länger. Im Zuge dieser Neudefinition der »Natur des Menschen« wird nicht-empathisches Verhalten pathologisiert, das heißt als krankhaft oder nicht normal definiert. Der Psychologe Simon Baron-Cohen unterscheidet zwei Varianten von »Null-Grad-
Empathie«. In die
»Null-Positiv«-Kategorie fallen Autist*innen. Menschen in dieser Kategorie sind laut Baron-Cohen harmlos oder sogar gewinnbringend für die Gesellschaft. Bedeutsame Künstler-
*innen
und Naturwissenschaftler*innen – ganz überwiegend Männer – waren seiner Auffassung nach hochbegabte Autist*innen. Die »Null-Negativ«-Kategorie hingegen ist weniger harmlos. In diese Gruppe fallen insbesondere sogenannte Psychopath*innen. Sie schrecken nicht vor Gewalt gegen andere zurück, um ihre Ziele zu erreichen.

Neben diesen Kategorien sind auch alltägliche Verhaltensweisen wie Neid, Schadenfreude oder Ausgrenzung erklärungsbedürftig, da sie eben nicht dazu beitragen, den Zusammenhalt in der Gruppe zu stärken, sondern im Gegenteil zu Spannungen innerhalb der Gruppe führen können und somit ihr Überleben in Gefahr bringen. Durch solche Argumentationen wurd Sozialverhalten aus dem gesellschaft-
lichen Kontext gerissen
und biologisiert, es wird durch biologische und nicht durch soziale oder historische Kategorien erklärt.

Neosozialität?

Vielleicht denkt ihr jetzt: Das ist ja alles ganz spannend, aber warum entsteht gerade jetzt ein neues Menschenbild, das die sozialen Aspekte der »Natur des Menschen« in den Vordergrund rückt? Leben wir nicht im Neoliberalismus, in dem Eigenverantwortung in allen Lebensbereichen gepredigt wird? Wenn wir naturwissen-
schaftliche Forschung in ihrem gesellschaftlichen Zusammenhang anschauen, ergeben sich mindestens drei Erklärungsansätze für dieses Phänomen. Wissenschaftler*innen sind ja Mitglieder der Gesellschaft und legen diese Mitgliedschaft nicht ab, sobald sie ihr Labor betreten. Und genauso nehmen Politiker*innen Forschungs-
ergebnisse
und Interpretationen der (Natur-)Wissenschaften bewusst und unbewusst in ihr Denken und Handeln auf.

Erstens ist es nach dem Ende des Kalten Krieges nicht mehr notwendig, Individualismus und den freien Markt durch ideologische Hilfsmittel zu verteidigen, da die sozialistische Konkurrenzideologie ihre »real existierende« Grundlage verloren hat. Es ist also nicht mehr zwingend notwendig, dem*der kapitalistischen Einzelkämpfer* in, der*die Konkurrenz mit allen Mitteln aus dem Weg schafft, durch die Evolutionstheorie eine »natürliche Grundlage « zu geben, denn das Gegenkonzept des Sozialismus schien endgültig gescheitert. Zudem ist spätestens seit der Bankenkrise 2008 die Ideologie des freien Marktes selbst verstärkt in Erklärungsnot geraten und der Wunsch nach Solidarität und sozialer Verantwortung wird auch in Kreisen, die sich nicht unbedingt als links definieren, lauter. Eine zweite mögliche Erklärung ist, dass in den vergangenen Jahrzehnten soziale Kompetenzen auf dem Arbeitsmarkt immer wichtiger geworden sind, wie die Soziologin Eva Illouz beobachtet. Emotionale Kompetenz, sogenannte »soft skills« und die Sorge um die Kolleg*innen gelten heutzutage als Schlüsselkompetenzen auf allen Karrierestufen. Und drittens beobachtet ein weiterer Soziologe, Stefan Lessenich, dass sich westliche Wohlfahrtsstaaten zunehmend in Aktivgesellschaften umwandeln, in denen jede*r Einzelne für das Gemeinwohl verantwortlich ist. Im Zuge dieser Neudefinition sozialer Verantwortung wird eine neue Form des Sozialen geschaffen, die Lessenich »Neosozialität« nennt und in der das Soziale in das Individuum hinein verlagert wird. Individuen sind nicht nur für ihr eigenes Wohlergehen, sondern für das der gesamten Gesellschaft verantwortlich. In dieser Logik fallen Verantwortung für sich und die Gesellschaft zusammen.

In diesem Licht betrachtet bietet das prosoziale Menschenbild eine biologische Grundlage für die Anforderungen, die die neosoziale Gesellschaft an ihre Mitglieder stellt. Genau in dem Moment, in dem soziale Kompetenzen gefordert sind und in dem Verantwortung für das Soziale an einzelne delegiert wird, wird durch Hirnforschung und Evolutionsbiologie bescheinigt, dass Menschen durch ihre Evolutionsgeschichte darauf programmiert sind, sozialen Zusam-
menhalt herstellen zu wollen
– vielleicht nicht auf der Ebene eines Nationalstaates, aber auf der Ebene kleiner Gemeinschaften von etwa 150 Mitgliedern. Eine Gesellschaft, die aus kleinen Gemeinschaften besteht und in der sich die Mitglieder umeinander kümmern und das nicht vom Staat verlangen, wäre also nicht nur billiger für den Staat, sondern auch näher an den biologischen Bedürfnissen des Homo sapiens, so die unausgesprochene Logik dahinter. Und so ist es am Ende vielleicht doch gar nicht so erstaunlich, wenn zu einer Zeit, in der Individualismus und Selbstverantwortung hochgehalten werden, ein Menschenbild entsteht, das die soziale Natur des Menschen betont. Denn individuelle Verantwortung besteht eben nicht nur darin, für sich selbst zu sorgen, sondern auch für die um uns herum und somit für das Gemeinwohl. Zusammenhalt in einer Gemeinschaft bekommt plötzlich eine biologische Grundlage in Hirnwindungen und Hormonen, die sich im Laufe der Evolution als vorteilhaft heraus-
gestellt haben. Der
Staat muss demnach nicht besonders stark anstrengen, um einen sozialen Zusammenhalt herzustellen und kann die Verantwortung dafür an kleinere Gemeinschaften delegieren. Das Prinzip der Subsidiarität, nachdem die kleinste gesellschaftliche Ebene (zum Beispiel die Familie oder die Kirchengemeinde) für das Wohlergehen ihrer Mitglieder verantwortlich ist und die nächst-
höhere Ebene nur
einspringen soll, wenn die kleinere Einheit ihrer Aufgabe nicht nachkommen kann, bekommt durch die hier beschrie-
bene Neudefinition
der »Natur des Menschen« eine biologische Legitimation. Das bedeutet auch, dass der Staat sich aus der Verantwortung zurückziehen kann.

Aber vor allem zeigt es, dass Biologie und Natur eben nicht objektiv einfach da sind und Forscher*innen im Labor der Wahrheit auf der Spur sind. Sie sind Teil des gesellschaftlichen Diskurses und legen ihre Mitgliedschaft in einer Gesellschaft nicht ab, sobald sie ihren Laborkittel anziehen. Und genauso nehmen Politiker*innen For-
schungsergebnisse und Interpretationen
des wissenschaftlichen Feldes bewusst oder unbewusst in ihr Denken und Handeln auf.

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